Wir öffnen Kasse vier für Sie.

Wie sieht eigentlich ein Geduldsfaden aus? Fäden sind ja eher dünn. Geduld ist nicht meine Stärke. Judith, wie ist es bei Dir? Hallo Judith, wo steckst Du? Verdammt, wo steckst Du? Hallo? Wieso hörst Du mich denn nicht? Nein, ich mache keinen Tumult. Geduld meine ich. Mensch!

Früher, wenn ich mich irgendwo vorgestellt habe, als Top-Manager oder Teamleiter oder was immer, fragten mich die Chefs in Spe am Ende, ob ich vielleicht irgendwelche Schwächen habe. Ich habe dann stets etwas gezögert, so sechs bis sieben Sekunden, so dass es gerade peinlich wurde, und dann habe ich hervorgepresst, ich sei vielleicht manchmal etwas ungeduldig. Das war ein alter Trick: Ich hatte eine Schwäche zugegeben, die aber in den Augen meiner Gegenüber eine Stärke war. Sie nickten bereits verständnisvoll. Ungeduldige Kollegen sind jedenfalls das Gegenteil von trödelnden Kollegen, haben sie gedacht. Es funktionierte in der Regel.

Und jetzt das. Seit drei Wochen. Lock down. Ich gebe zu, dass ich am Supermarkt die Rentner rechts überholt habe, wenn es hieß: „Wir öffnen Kasse vier für Sie.“ Obwohl Rentner wirklich rüstig sind – was übrigens ein schönes altes Wort ist: „Rüstig“ sind die, die Rüstung tragen können – war ich garantiert der erste am Band. Ich war auch immer der mit dem Karton unterm Arm, weil ich keine Münze für den Wagen hatte. Jetzt stehe ich in der Schlange vor der Tür. Ohne Wagen darf ich gar nicht anstehen, kurz vor dem Eingang wischt nochmal jemand über den Griff zum Desinfizieren.

„Geduld und Vorsicht sind das Gebot der Stunde“, hieß es als Fazit nach der letzten Pressekonferenz der Kanzlerin. Nur hat uns das niemand beigebracht. Schnelligkeit und Fehlerkultur sind Werte an sich geworden. Was heißt hier Vorsicht? Wir haben gelernt in Fuck-up-Nights prominent unser Scheitern zu feiern.  Früher haben wir über Lucky Luke gelacht, diesen Comic-Westernhelden. Lucky Luke schoss schneller als sein Schatten. Heute sind wir selbst als Schattentöter unterwegs. Wir reden in Überschriften. Wir diskutieren, während wir schreiben, hören zu, während wir Nachrichten versenden, erklären die Welt, während sie untergeht. 

Ein bisschen besser wäre es zu wissen, worauf wir eigentlich warten. Wann soll der Lock down wieder zum Start up werden? Okay, ich soll Muttern nicht zu Ostern besuchen. Okay, mein Rammstein-Konzert fällt wahrscheinlich auch ins Wasser, dabei habe ich die Karten schon vor fast einem Jahr gekauft und sie meinem Ältesten zum 18. geschenkt. Klar kann ich mit Muttern skypen, aber virtuelles Eiersuchen ist Mist. Und klar können wir Ramstein streamen, aber dann könnte ich auch einen Reisekatalog blättern, anstatt mit dem Mississippi-Dampfer zu schippern. Oder mir ein Foto von Sophia Loren auf den Tisch stellen, anstatt Judith anzugucken. Sie kennen Sophia Loren nicht? Sieht aus wie Judith. Unsere Geduld jedenfalls ist in einem Erschöpfungszustand, weil wir nicht wissen, wie das Ziel aussieht. Einen Impfstoff wird’s bis nach Ostern nicht geben, und alles andere ist eine Frage der Perspektive. Uns fehlen die Kriterien. Wir sind Marathonläufer ohne Zielflagge. 

Start up ist im Grunde genommen die Übersetzung von Auferstehung. Sitzen in der Politik lauter Gläubige, die die österliche Wiederauferstehung wörtlich nehmen? Unwahrscheinlich. „Von der Freyheyt eyniß Christen menschen“, heißt die vor jeder Rechtschreibreform entstandene Denkschrift vom Dr. Martin Luther, der sich stark auf Ostern bezog: Mit der Wiederauferstehung hat sich Jesus seinen Verfolgern entzogen und seine Freiheit erlangt. Wer diesen Glauben teilt, sei auch auf der Erde ein freier Mensch, folgerte Luther, gewann jede Menge Fans damit und zettelte am Ende den Dreißigjährigen Krieg an. Hatte er wahrscheinlich nicht gewollt.

Trotzdem lautet der Rat von Judith und mir: Zieht die Rüstung an. Für den Tag, wenn der Geduldsfaden reißt. Bis dahin gehen wir jetzt erstmal Eier suchen.