warum wir Scheinriesen so mögen

Die Welt ist voll davon. Von Scheinriesen. Ein Unwetter, das Judith, mich und die Kinder derzeit in unserer Sommerresidenz ereilt, ist ein solches. Wir haben Post aus ganz Deutschland mit sorgenvollen Kommentaren, Hinweisen auf die internationale Nachrichtenlage und ganzen Katastrophenfilmen bekommen. Sie alle belegten ganz eindeutig, dass Schlammlawinen unsere Geländewagen fortspülten, während wir ohne Dach über den Kopf in örtlichen Turnhallen untergebracht werden. Wir haben das gelesen, mehr oder weniger gleichgültig aus dem Fenster geschaut und gesehen: Es regnet.

Nun schreiben wir allen, dass wir keine Geländewagen dabeihaben und sie sich keine Sorgen machen sollen, weil dieses Wetter ein Scheinriese ist: von weitem furchteinflößend, mittendrin eben ein bisschen nass, mehr nicht. Und falls der Regen andauert, könnte es sein, dass unsere Gedanken gurgeln, wie das Wasser in den Rinnsalen, die sich entlang der schmalen Straße bilden. Wir würden darüber nachdenken, welche Scheinriesen uns noch umgeben. Die Vorstellung, dass manch übler Diktator vielleicht nur ein Scheinriese ist, dass die Putins und Xi Jingpings vielleicht nur Tur Turs sind, wie Scheinriesen gemeinhin heißen, hat etwas Tröstliches. Pest, Cholera und Corona, Sintfluten, Sturmtiefs und Erdbeben – Auge in Auge mit solchen Katastrophen wüchse dann die Tapferkeit.

Noch ein bisschen besser ist die andere Seite der Medaille. Zu jedem Scheinriesen gehört nämlich ein Scheinzwerg. So wie der Scheinriese mit zunehmender Nähe kleiner wird, wächst der Scheinzwerg mit abnehmender Distanz zu imposanter Größe. Ich nehme an, dass ich zu dieser Gattung gehöre. Von Ferne jedenfalls hat Judith mich früher nicht so sehr wahrgenommen. Als ich dann näher rankam, fand sie mich, glaube ich, ganz gut. Umgekehrt habe ich festgestellt, dass sie von Nahem gar nicht so eine Katastrophe ist. Das werde ich ihr aber so natürlich nie sagen.