tiefhängende Messlatten

Olaf Scholz verriet jetzt, dass er seit März keinen Tropfen getrunken habe, um auf dem Weg ins Kanzleramt nicht zu stolpern. Und bei seiner Vereidigung ist ihm dieses „so wahr mir Gott helfe“ nicht über die Lippen gegangen. Mir ist das unheimlich. Beides.

Wenn Gott oder irgendein Geist nicht in der Flasche steckt, was ich jederzeit unterschreibe, so steckt er mit Sicherheit irgendwo da draußen. Und es kann nicht schaden bei allem Tun, den Chef nicht zu vergessen, denke ich und erinnere mich mal wieder an die Regeln des Heiligen Benedikt. Dort steht, dass jeder Mönch täglich eine Hemina Wein zu sich nehmen sollte. Die Benediktiner haben es bis heute wohlweißlich unterlassen zu klären, wieviel eine Hemina ist. Niemand muss alles wissen, sagen sie sich.

Ich habe Judith mit dem Thema noch nicht konfrontiert. Sie ist derzeit in anderen Umständen und hat seit Mai nichts getrunken. Deswegen ist sie manchmal nicht ganz mit sich selbst im Reinen, und ich möchte nicht in dieser Wunde rühren. Es wird ein bisschen besser, wenn ich bald wieder mit ihr anstoßen kann, und so wahr uns Gott helfe, sind wir dann eine mehr.

Solange bleibe ich allein mit diesen Gedanken. Es geht um die Frage, ob uns lieber ein Mensch gewordener Algorithmus regiert oder jemand, der weiß, dass Messlatten mindestens so hoch hängen müssen, dass es sich gerade drunter durchschlüpfen lässt. Der das Verrückte akzeptiert, weil er sieht, wohin das Normale führt. Der seine Grenze kennt, weil er es schon mal mit Wundern zu tun hatte. Der Vorsicht mit Verwegenheit paart. Der überwiegende Nüchternheit mit unbändiger Neugier verbindet. „Schreibst Du schon wieder über Dich selbst?“, fragt Judith, die mir jetzt über die Schulter guckt. „Kennst Du ein besseres Thema, Baby?“, knurre ich zurück und bin stolz, dass dem Scholz so eine Antwort nicht eingefallen wäre. Jedenfalls nicht nüchtern.