Spätsommer

Die Sonne scheint golden und leicht schräg zwischen den Bäumen hindurch. In den Morgenstunden steigt der Nebel dichter und länger vom Boden auf, und abends geht es etwas früher heim in die wärmende Stube. Wenn so ein Tag kommt, an dem uns der Sommer daran erinnert, wie warm und schön er gewesen ist, spricht niemand von Klimawandel und Hitzerekorden, sondern von Spätsommer. Der Spätsommer wird altersmilde behandelt. Er darf 30 Grad mitbringen, ohne zu heiß zu sein. Es muss keinen Regen geben, wir stöhnen dennoch nicht über Trockenheit. Und jeden Schweißtropfen, der uns den Rücken hinunter rinnt, genießen wir, als sei es der letzte in diesem Jahr.

„Judith“, rufe ich, „in welcher Phase Deines Lebens befindest Du Dich?“ „Frühling“, zwitschert es hinter dem Computer zurück, und ich denke darüber nach, dass das Leben nur drei Jahreszeiten bereithält: den Frühling, den Sommer und den Herbst. Den Winter gibt es nicht. Dafür lässt sich der Sommer vielleicht noch in einen Früh-, einen Hoch- und einen Spätsommer unterteilen, aber der Winter ist auf jeden Fall tabu. Oder haben Sie schon einmal jemanden gehört, der sagte, er befinde sich im Winter seines Lebens? Es kann einem noch so kalt sein, über den Herbst kommen wir nicht hinaus. Und auch der Herbst hat aufs Leben gesehen schon etwas höchst Melancholisches, da können die Blätter noch so bunt sein.

Angela Merkel befindet sich derzeit im Spätsommer ihrer Kanzlerschaft, manche reden von Dämmerung, die ja ebenfalls um diese Zeit früher einsetzt. Die Grünen hierzulande erzeugen das Phänomen, ständig im Frühling festzustecken auch vierzig Jahre nach ihrer Gründung. Das verleiht ihnen etwas Hoffnungsträgerhaftes, ich vermute manchmal sogar Judith wählt sie deswegen. Die SPD geht unterdessen als alte Dame durch, die man eher auf Herbst taxiert. So etwas wie die AfD sähen wir am liebsten irgendwo festgefroren unter dem ewigen Eis des Winters, aber so wie zum Beispiel Kröten wieder lebendig werden können, wenn das Eis um sie herum auftaut, hüpfen auch diese Leute immer wieder durch die anderen drei Jahreszeiten.

Ein bisschen besser wäre es, wir machten uns klar, dass der Reigen der Jahreszeiten eben ein Reigen ist, dessen Anfang so unmittelbar nach seinem Ende beginnt, dass kein Blatt Papier dazwischen passt. Der Reigen ist wie unsere rumänische Hündin, die sich gerade um sich selbst drehend in den Schwanz beißt. Und ich bin ganz sicher, dass sie die vollen Drehungen übersteht, ohne zwischendurch die Augen zu verschließen. Könnte sie denken, würde sie denken: Mein Ende ist mein Anfang.