Schwämme der Götterkinder

Während Judith und ich auf dem Bug eines pfeilschnellen Motorbootes bei untergehender Sonne auf einem norditalienischen See unsere Füße betrachten, fällt mir Adam Lonitzer ein. Pilzforscher und eine Art Allroundgenie, Doktor der Mathematik, Naturgelehrter und Magister der schönen Künste. Er hat im 16. Jahrhundert aufgeschrieben, dass Pilze Schwämme der Götterkinder seien, weil sie ohne einen Samen aufwüchsen. 

Heute wissen Lonitzers Nachfahren, dass der gute Doktor damals irrte: Manche Pilze haben durchaus Sex, Naturforscher rechnen sie eher dem Tierreich, als dem der Pflanzen zu, was wiederum ernsthafte Fragen für Vegetarier aufwirft, die gerne Champignons essen. Etwas Göttliches haben sie dennoch, die Pilze und nicht die Vegetarier. Weil ihr Myzel, das sich der Laie als quicklebendiges Wurzelwerk vorstellen kann, das ständig Hunger auf die unterschiedlichsten Dinge wie Käfer, schuppige Haut oder verfaulte Speisereste hat – ihr Myzel also ist fast unsichtbar. Aber es existiert. Die unsichtbare Existenz schreiben Judith und ich auch den Göttern zu. Götter und Pilze, die einen oben, die anderen unten, haben also etwas Gemeinsames.

Jetzt sind wir beide nicht sonderlich spirituell veranlagt, sondern mehr bodenständig und bevorzugen zu Pilzen eine schwere Rahmsoße anstatt irgend so ein ätherisches Knoblauchöl. Das hat aber nichts damit zu tun, dass wir nicht ans Unsichtbare glauben. Es gibt unsichtbare Kräfte, die einen anziehen. Die Erdanziehungskraft ist so eine. Gäbe es sie nicht, würdet ihr beim Lesen jetzt nicht sitzen, stehen oder liegen, sondern ihr würdet schweben, und alles wäre ein ziemliches Durcheinander. Man kann also sagen, dass unsichtbare Kräfte die Welt ordnen und es tatsächlich ein bisschen besser ist, diese unsichtbaren Kräfte ins Kalkül einzubeziehen.

Das entbindet einen allerdings nicht, zunächst nach den sichtbaren Kräften zu forschen, der Sache sozusagen auf den Grund zu gehen und sie nicht gleich als grundlos darzustellen. Lonitzer hatte damals bei den Pilzen ohne Samen auch zu früh aufgegeben und insofern finden Judith und ich es weltpolitisch richtig, dass im Fall Nawalny keine gottgegebene Stoffwechselkrankheit hingenommen wurde, sondern intensivere Forschung auf Nervengift hindeutet. Wir finden auch gut, dass ein Untersuchungsausschuss dem Vorgang rund um Wirecard gründlich auseinandernimmt, so dass voraussichtlich nichts göttlich Unerklärliches mehr übrigbleibt. Ich könnte jetzt Beispiel an Beispiel reihen, aber Judith bremst mich, weil wir abgemacht haben, dass hier nicht ständig etwas Politisches stehen soll. Also beäugen wir weiter unsere Füße und betrachten die Entstehung dieses Textes als etwas Unerklärliches. Geradezu göttlich also.