leichte Differenzen

„Es gibt“, sagte der gut befreundete Handwerker, als er den Einbauschrank zwischen Wand und neuer Schiebetür montieren wollte, „ein Soll- und ein Istmaß.“ Das Sollmaß hatte er zuvor über Monate berechnet. Zunächst mittels dreidimensionaler Computerbilder, die eine perfekte Welt zeichneten, ein Einbauschrank-Paradies quasi. Dann hatte er unter Zuhilfenahme zukunftsweisender Lasertechnik alles bis auf den µ vermessen, und den auch noch einberechnet. Dass die nach diesen feinsten Kalkulationen gezimmerten Möbel sich dem Einbau widersetzten, lag eben an der naturgegebenen leichten Differenz zwischen Soll- und Istmaß.

Während unserem Handwerker die Sache ein sichtbares Stirnrunzeln verursachte, nahmen Judith und ich es auf die leichte Schulter. „Im Laufe einer Partnerschaft“, so würden wir ein Kapitel im „Lehrbuch über Beziehungskisten“ beginnen, das wir garantiert niemals schreiben werden, „lernen beide ständig, dass Soll- und Istmaß unterschiedliche Dinge sind.“ Judith zum Beispiel hat berufsbedingt ein hervorragendes Auge für gerade Linien. Seitdem sie mich kennt, geht einiges schief in ihrem Leben, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass sie das ein bisschen besser findet. Möglicherweise hängt der Haussegen sogar deswegen gerade.

Ich selbst jage Zeit meines Lebens Paradiesen hinterher: denen, sie sich kaufen und einbauen lassen, und den sperrigen Unverkäuflichen. Im Grunde genommen bin ich ein Paradiespirscher. Mein Erfahrungsschatz besteht darin, dass ich ahne, dass die käuflichen nicht lange halten, was mich aber nicht davon abhält, ihnen dennoch hinterher zu spüren.

Handwerker sind auch sonst gut für alle die, die sich zu weit vom praktischen Leben entfernt haben. Dafür spricht der ebenfalls befreundete Schiebetür-Schlosser, der uns erklärte: „Das hält in sich.“ Ich schaue Judith an und sie mich. Ein Leben, das in sich hält – was für ein weises nächstes Kapitel in dem Buch, das wir nie schreiben werden, es sei denn der Deutsche Handwerksverlag zahlt jetzt einen Vorschuss.