Kinder Europas

Wir sind Globalisierungs-Liebhaber, Judith und ich. Wir nutzen unsere Smartphones mit Bauteilen aus China, essen Ananas aus Carracas und mein Fahrrad kommt aus England. Und wir reisen gern. Derzeit mit Judiths VW, Baujahr 2012, mitten aus der Dieselskandal-Produktion. Wir haben allerdings vergessen, uns in Wolfsburg zu beschweren, was auch so eine Erkenntnis ist: Sich zu beschweren, stellt vielleicht Gerechtigkeit wieder her und finanziellen Ausgleich, aber den Tag versüßt es definitiv nicht. „Du sollst nicht murren“, heißt es in den Regeln des heiligen Benedikt. Der Mönch wusste, wovon er sprach.

Davon wollten wir aber nicht sprechen. Sondern übers Reisen. Das geht wieder. Nicht mit dem Flugzeug, aber mit dem Auto. Wir sind Kinder Europas, dieses wunderbaren Kontinents, wo Du zehn Stunden mit dem VW fahren kannst und von der See bis hinter die Alpen kommst. Von den Grachten Amsterdams, durchs Rheinland, rechts am Kölner Dom vorbei und dem Taunus, Heidelberg links liegen lassen, bei Basel über die Grenze, durch den Gotthardtunnel, bis sich die Berge zur Lombardei hin öffnen. Damals mit den Eltern haben wir die Strecke im VW-Käfer gemacht. Die Autobahnen waren nicht gebaut, ab Tempo 120 wurde der Boxermotor am hinteren dritten Zylinder ungemütlich warm, die Grenzer wollten unsere Ausweise sehen, es dauert 20 Stunden, und wir waren keine Minute davon angegurtet. Weltanschauung, das wussten wir seither, kommt von Welt anschauen. Und wer eine allzu feste Weltanschauung pflegt, ohne die Welt angeschaut zu haben, besitzt meistens nur eine Dorfanschauung. 

Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass all das einmal nicht möglich sein würde. Und zwar nicht, weil der Motor streikt, sondern weil die Grenzen dicht sind. Weil ein Unglück namens Corona seinen Lauf nahm und auf einmal alle dachten, so etwas regelt man besser unter sich. Unsere Telefongesellschaft projizierte uns ungefragt „Stay at home“ aufs Display und im Radio ging es ständig um Balkonpflanzen. Nicht bewegen, Abstand halten, Gesicht verhüllen hießen die drei Gebote des heiligen Robert Koch. Und wir mussten uns erst wieder bewegen dürfen, um festzustellen, dass beispielsweise der Mund- und Nasenschutz weder in den Grachten Amsterdams, noch an den nördlichen Ausläufern der Lombardei zur Standardausrüstung in der frühen Nach-Corona-Phase zählt. Wandern macht bewandert, dachten wir. Vielleicht hätten sich Robert Koch und der heilige Bendikt auf den Jakobsweg begeben sollen. Es gibt verschiedene Wege zum Ziel.

Wenn uns deswegen jetzt jemand etwas von De-Globalisierung erzählt, von der Rückbesinnung aufs Regionale und dem Reiz des Beschaulichen, dann denken wir, ein bisschen besser ist es, wenn er den Daumen hochstreckt: Wir würden sofort anhalten und ihn mitnehmen. Im Auto würden wir über die Liberalität holländischer Kaufleute, die Disziplin Kölner Domherren und die Lebenslust lombardischer Winzer diskutieren. Wir wären angegurtet und stritten über Elektro- oder Atomantriebe, während sich der dritte Zylinder ausgerechnet am Gotthard in die ewigen Jagdgründe verabschiedete. Es wäre eine wunderbare Reise.