Home-Knigge

Einzelhändler sind wie Bauern: Sie stöhnen fast immer. In diesen Tagen stöhnen sie, weil trotz freizügigerer Hygienevorschriften kaum einer Bock hat auf Einkaufen. Ökonomen erklären das mit Zukunftsangst: Wenn keiner weiß, wie es weitergeht, halten alle ihr letztes Geld zusammen.

Ich habe eine andere Erklärung, die mir einleuchtet, seitdem auch Frau Horstmann meinen Kleiderschrank kennt. Frau Horstmann heißt die Lehrerin von Judiths Tochter, die seit drei Monaten, die sich anfühlen wie drei Jahre, per Video notdürftigen Kontakt zu ihrer Schule unterhält. Bei den Videokonferenzen darf jedes Kind die Kamera um 180 Grad drehen und direkt aus dem Raum übertragen, in dem es gerade ist. Auf diese Weise gelangten Innenansichten meiner zugegebenermaßen umfangreichen Kleiderkammer ins virtuelle Klassenzimmer.

Früher, und auch das ist gefühlte drei Jahre her, bin ich lustvoll durch diese Kammer gestrichen auf der Suche nach einer Kombination, die zu den Gegebenheiten des vor mir liegenden Tages passen würde: Sieht mich Judith, die Hosenträger gerne mag? Gibt es einen Alt-Herren-Termin, der nur die Farben blau und grau zulässt? Gehe ich heute als Kreativer mit engem T-Shirt unterm Jackett? Judiths Kleiderkammer ist dagegen eher ein Kämmerchen und bei manch luftigem Stoff habe ich mir schon die Frage gestellt, ob sie damit schneller eine Erkältung oder einen anderen Mann anzieht. Unterm Strich aber gilt für uns beide: Jeder Jeck ist anders und wir konnten viele Jecken.

Heute gibt es im Nebenzimmer eine kleine Kommode: Unterhosen links, Jeans rechts. Das war’s. Und das reicht.  Videokonferenzen darf man anziehtechnisch bestreiten, wie man will. Soweit mir das bekannt ist, hat selbst die Deutsche Bank keine Kleidervorschriften fürs Home Office.

Ein bisschen besser ist es, etwas völlig Neues zu wagen. Eine Art Knigge für die Heimarbeit. Vom Freiherren Knigge stammt der Satz: „In deiner Kleidung verfalle nie in Nachlässigkeit, auch wenn Du Dich unbeobachtet fühlst.“ Daran ließen sich nahtlos drei Regeln anschließen. Erstens: Keine Hemden mit kurzen Fledermaus-Ärmeln tragen, die Assoziation ist derzeit ungünstig. Zweitens: Die Kamera hat einen engen Ausschnitt, also nicht ständig das ganze Gesicht mit dem Kaffeebecher verdecken. Und drittens: Niemals aufstehen und das Video zu spät beenden, wenn untenrum nichts ist. Unterm Strich: Am besten ins Home Office gehen, als säße die Chefin schon da und wartete. 

Ich habe mit Judith sehr ernsthaft geredet, sie hat jetzt bei uns die Rolle der Chefin übernommen. Seitdem muss der Einzelhandel nicht mehr klagen. Jedenfalls nicht über mich.