Kinder des Vorabends

Weil wir in einigen Monaten eine zweitägige Festivität planen, hat Judith rechtzeitig begonnen die Kleidungsfrage anzugehen und bereits mehrere Modelle erworben, die allerdings nur vorabendtauglich sind. Für das Hauptevent ist sie quasi bisher nackt, aber derzeit darüber noch unbekümmert. Ich halte das für richtig, denn im Grunde meines Herzens denke ich, dass die Vorabende des Lebens am schönsten sind. Die Gewissheit, dass der Höhepunkt noch bevorsteht, ist allgemein jener Phase des Höhepunkts selbst vorzuziehen, der bereits die Traurigkeit innewohnt, dass sie gleich vorüber ist. Wir sind Kinder des Vorabends, der Vorspeise, der Vorfreude.

Ja, „ich denke mit dem Herzen“, habe ich eben geschrieben und ich meine, das ist ein bisschen besser so. Ich halte die Aufklärung für unvollkommen, weil ihr die Poesie der Seele fehlt. Im Zeitalter der Programmiersprachen rufe ich all diesen Digitalen zu: „Aufklärung ist Excel, Romantik ist Word!“ Der große Romantiker Clemens von Brentano hat es auf den Punkt gebracht, was ich Judith immer sage, wenn wir unsere Vorleben Revue passieren lassen: „Eine einzige Treue ist aller Lieben wert“, sagen Brentano und ich. „Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein, bald hab ich ein Schätzl, bald bin ich allein“, antwortet Judith, die auch ihren Brentano kennt. Ich werde dann immer misstrauisch, denn in Wirklichkeit kommt Judith vom Flüsschen Brenz und nicht vom Neckar, und wir grasen nun schon eine Weile zusammen am Rhein in Düsseldorf und schätzln uns gegenseitig.

Wir sind des freien Rheins noch weit freiere Kinder, wie Heinrich Heine von sich geschrieben hat, der ansonsten ein Sohn Düsseldorfs ist und seine Heirat mit der sehr viel jüngeren Augustine Crescence Mirat 1841 am Vorabend eines Duells vollzog. Das Duell war weiter nicht der Rede wert. Als Waffen hatte man Pistolen gewählt. Doch der Schuss seines Kontrahenten Salomon Strauß prallte am gut gefüllten Portemonnaie Heines ab. „Gut angelegtes Geld“, hat der Dichter darauf salopp bemerkt und voller Verachtung seinen Schuss ziellos in die Luft geballert. Der Heirat am Vorabend mit Augustine, einer Frau mit üppig weiblichen Formen, die er in einem Schuhladen kennengelernt hatte, folgte dagegen eine lange glückliche Beziehung, was unsere Theorie des Vorabends bestätigt. „Schuhe brauche ich auch noch, mein Lieber“, flötet Judith, und wir gehen dann mal los.