Herbstoriginale

Herbst. Manche kommen da auf die merkwürdigsten Ideen, sie verbinden Kastanien mit Streichholzstäbchen und sagen, das sähe aus wie ein Pferd. Das Wetter draußen weiß nicht, ob es lachen oder weinen soll, wir sitzen beim Frühstück und überlegen, wohin mit dem Tag. „Lasst uns“, sage ich, „in eine Höhle fahren. Da ist es immer gleich kalt und gleich dunkel. „Und gleich feucht“, sagt Judith, und ich ahne schon, dass es nichts wird mit der Höhle.

Um wenigstens den Gedanken weiterzuspinnen, erzählen wir uns von den französischen Höhlenmalereien in Lascaux, die so berühmt sind, dass eigens eine Höhlenkopie angefertigt wurde, in die seither die Besucher strömen, während das Original geschlossen bleibt. Judiths Tochter staunt. Ich berichte von Diktatoren, die Doppelgänger engagieren, damit sie Attentate nicht persönlich abkriegen. „Die Welt ist eine Farce“ rufe ich, während draußen ein Blatt vom Baum fällt. Judith schaut mich prüfend an.

„Was wäre“, stelle ich zur Diskussion, „wenn diese Höhlenmenschen damals schon den Planeten retten wollten und Schaufel für Schaufel einen Ersatzplaneten gebaut hätten?“ Wenn er im Maßstab eins zu eins entstanden wäre, hätte das haargenau soviel Baumaterial gebraucht, wie die originale Erde hergegeben hätte. „Vielleicht stehen wir auf dieser Ersatzwelt und wissen es gar nicht“, schließe ich meine Ausführungen. Judiths Tochter schaut zweifelnd zu Boden, draußen fällt erneut ein Blatt vom Baum, segelt der Ungewissheit und dem Verfäulnis entgegen. 

Identitäten schwinden bei diesem Herbstfrühstück wie Morgennebel über der Wintergerste. Haben wir uns nicht alle schon einmal selbst bei etwas zugeschaut? Ich zum Beispiel habe mir eben noch gesagt: „Du musst jetzt aufstehen, auch wenn Du eine dicke Birne hast.“ Notgedrungen habe ich mir gehorcht, sonst säßen wir jetzt nicht hier. Doch welches Ich bin ich, wenn ich mir selbst Befehle gebe? 

Judith räumt jetzt den Tisch ab. „Wärst Du eine Kopie, würdest du mir jetzt helfen“, stellt sie fest. „Aber nein, Du bist offenbar das Original“, seufzt sie und gibt offen zu verstehen, dass Kopien ein bisschen besser sein können als Originale. Es ist eben Herbst und manche kommen dabei auf die merkwürdigsten Ideen.