Geschmacksrichtung „Wald“

Als wir neulich durchs oberbergische Land gewandert sind, musste ich feststellen, dass ich mich radikalisiert habe. Mir fiel es auf, als Judith und ich schon auf dem ersten Drittel des Weges richtig in Fahrt kamen, ich beim Stapfen durch den Wald über Grundrechtezertrampler schimpfte und beim Einatmen des Duftes, der dem feuchten Geäst entströmte, Mundschutzfetischisten verhöhnte. Judith gab zu bedenken, dass wir ja nicht spalten, sondern versöhnen wollten. Aber ich knurrte nur: „Ab heute später Vormittag ist die Zeit zum Widerstand gekommen.“

Wir hatten dann ein lustiges Erlebnis, weil unser Weg uns unwissentlich durch den Vorgarten eines Imkers führte, der von unserem Spaziergang durch sein Blütenparadies gar nicht so erbaut war, bis wir ihm drei Gläser Honig Geschmacksrichtung „Wald“ abkauften, sozusagen als Wegezoll. Da wurde er für seine Verhältnisse ganz redselig und meine Radikalität verrauchte, weswegen die fünf Euro pro Glas gut angelegtes Geld waren, auch wenn wir nun Honig bis zur dritten oder vierten Corona-Angriffswelle in der Schublade haben.

Ist Ihnen aufgefallen, dass schon die erste Welle hierzulande nicht angekommen ist? Sie ist weder im Oberbergischen noch im Mittelfränkischen gelandet, vom Ostfriesischen oder der Schwäbischen Alb, wo Judith herkommt, ganz zu schweigen. Weil die Welle nicht kam, blieben die Krankenhäuser leer und die Überlastung des Gesundheitssystems war auch nicht in Sicht, jedenfalls Grosso modo.

Von den Infizierten überleben fast alle, Boris Johnson war rechtzeitig zur Geburt seines sechsten Sohnes seiner dritten Verlobten sogar wieder so geistesgegenwärtig, dem Spross als dritten Vornamen den seines Corona-Arztes zu verpassen. Er heißt Nick. Leere Krankenhäuser und fidele Überlebende auf der einen Seite, auf der anderen graben sich diese Bilder ins Gedächtnis: Die aus Bergamo und aus New York, die einem den Angstschweiß den Rücken runtertreiben. Es gibt auch jene Fotos von Menschen, die meine Großmutter sein könnten, hinter einer Scheibe, während ihre Kinder davor mit den Fingerkuppen übers Glas streicheln, als würden sie die Alten dahinter liebkosen.

Ein bisschen besser ist es, nicht Zahlen gegen Bilder auszuspielen. Eine hundertprozentige Wahrheit gibt es genauso wenig wie hundertprozentigen Alkohol, bedauern nicht nur trunksüchtige Journalisten, sondern sagt auch Sigmund Freud. Das Schöne ist: Wer Freud glaubt, wird kein Radikaler, weil er oder sie sich eben niemals im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit wähnen. So eine Einstellung macht sogar Selbstmordattentäter arbeitslos. Für die, die mit Freud nichts anfangen können, empfehlen wir an dieser Stelle Honig, Geschmacksrichtung „Wald“. Wirkt auch.