Diesseits vom Deich

„Der Krieg läuft nicht mehr so.“ Dies ist ein Satz, der nicht aus dem Kreml-Hauptquartier stammt, sondern er kommt von einem Quotenjäger. Einer von denen, die in Funk, Fernsehen und Online in Echtzeit unsere Interessen messen und danach ihr Programm gestalten. Und so ein Quotenjäger sagte mir eben: „Der Krieg läuft nicht mehr so.“ Das Überraschungsmoment fehle. „Judith, wir sind Gewohnheitstiere“ rief ich rüber zu ihrem Schreibtisch. „Ja, vor allem Du“, murmelte sie hinter ihrem Bildschirm sitzend zurück. „Du könntest Dir mal angewöhnen, Sachen, die auf der Treppe liegen, auch mit hochzunehmen.“

Tatsächlich gibt es in der menschlichen Natur widerstreitende Mächte, denke ich, während ich die Treppe mit dem geleerten Windeleimer im Galopp nach oben nehme. Da ist die Macht der Gewohnheit, die uns dazu verleitet, Dinge morgen genauso zu machen wie heute. Am Konferenztisch nehmen wir stets den zweiten Stuhl links von der Mitte. Wir bleiben diesseits vom Deich, wer weiß, was dahinterkommt. Wir sind Gewohnheitstrinker, Gewohnheitsschläfer und fahren aus Gewohnheit gern ins gleiche Ferienappartement wie letztes Jahr. Erst entwerfen wir unsere Gewohnheiten, und dann entwerfen die Gewohnheiten uns.

Da ist aber auch die Macht der Veränderung. Ein Virus kommt daher: Wir verdecken unser Gesicht, halten Abstand und brechen mit allem, was uns wichtig war. Ein Krieg kommt daher: Wir liefern Waffen, entdecken, wie einfach es sein kann, Flüchtlinge aufzunehmen und sind von Warschau bis Lissabon ein einig Volk an Europäern. Intelligenz sei die Fähigkeit sich anzupassen, sagen die Intelligenten. Wenn Du ein Buch verkehrt herum hältst, lerne es von hinten zu lesen.

Judith und ich würde das Buch übrigens einfach wieder umdrehen. Denn wir finden manches ein bisschen besser, wie es ist. Wir sind echte Konter-Revolutionäre, die Bücher von Anfang bis Ende lesen oder gar nicht. „Du legst deines manchmal nebens Bett, bis es einstaubt“, wirft Judith ein. „Aber ich fange es nicht von hinten an“, beharre ich. Gemeinsam sind wir auch der Meinung, dass zu spät gelieferte Waffen Kriege verlängern, dass Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf genauso nötig wie eine Rückfahrkarte brauchen, und der Putin schon ein Lügenbold war, bevor auch Baerbock und Co. das festgestellt haben. Wir wissen, seit Einstein das gesagt hat, dass die einzigen tadellosen Mitglieder einer Schafherde die Schafe sind, und stehen deswegen lieber auf der anderen Seite von Zaun und Deich. Mäh.