Das Türangel-Prinzip

Wir stehen auf, weil der Wecker klingelt. Und dann gibt es diesen Moment, vor dem ersten Blick in den Spiegel: Du schläfst nicht mehr, aber bist noch nicht wach. Es ist das Zwischenreich, das Zwischen-Tür-und-Angel-Reich. Dann startet der Tag, vor uns liegt all das, was zu tun ist, und ich halte inne und Judith macht noch einen Kaffee mit dieser italienischen Wundermaschine, die lauter ist als ein Staubsauger ohne Auspuff. Und wieder steckt der Tag im Zwischenreich, das immer dort seinen Platz einnimmt, wo das eine nicht aufgehört, das andere noch nicht angefangen hat.

Unser Leben steckt zwischen Angel und Tür. Eben war Corona-Zwangspause und jetzt sind Ferien. Die Zwangspause geht in eine freiwillige über und die Unterschiede verschwimmen. Das Wohnzimmer ist zum Büro geworden und mein Gummibaum im Büro ist zugunsten eines Sessels verschwunden, der so aussieht, als stamme er aus meinem Wohnzimmer. Ich bin nicht jung und werde nicht alt und Judith bleibt immer 24. Die Geschäfte sind geöffnet, aber keiner geht hin. Die Spielzeit ist vorbei, ohne dass der Vorhang gefallen ist. Dann muss er sich gar nicht erst öffnen, wenn die Saison wieder beginnt. Die Bühne bleibt beleuchtet, nur ist niemand drauf. Die Partitur nimmt ihren Lauf, aber wo war eigentlich der Satz zu Ende? 

Die Parteien waren rechts oder links, heute sind sie grün. Autos waren schnell oder langsam, dieses Jahr fahren sie Richtgeschwindigkeit. Würde das Schachspiel offiziell neu erfunden, wären die Figuren grau und beige. Die Stechuhr trennte einmal Arbeit und Freizeit, die Kirchenglocke trennte Andacht und Muße. Vom Ferienparadies trennte uns eine Flugreise und von dem Liebsten trennte uns nichts. Wir hielten zusammen wie Tür und Angel, der eine konnte sich nur öffnen, wenn die andere ihn hielt. Und nun stehen wir dazwischen.

Ein bisschen besser ist es, das Dazwischen zu genießen. Die Wolke ist so ein Zwischending, sie schwebt in der Mitte zwischen Sonne und Regen, ihr Aggregatzustand ist weder nass noch trocken. Sie kann die hübschesten Formen annehmen, neulich sah ich eine, die aussah wie Markus Söder mit Maske, und das macht jeden blauen Himmel interessanter. „Heute bist Du aber ein bisschen wolkig“, sagt Judith. „Ich bin das manchmal ganz gern“, entgegne ich.