das Leben ist kein Flügelkampf

Judith und ich stehen vor einem Schloss. Genauer gesagt vor dem Ostflügel von einem Schloss in der nördlichen Lombardei. Im Ostflügel würden wir die Kinder unterbringen, denken wir. Wir selbst nehmen den leicht angegammelten Westflügel. Von den elf Zimmern dort würden wir ca. vier renovieren, das genügt für uns vollkommen. „In die Mitte machen wir die Osteria oder ein Fotostudio“, bestimmt Judith. „Nee, die Autowerkstatt“, sage ich. Judith schlägt vor, dass wir abwechselnd Osteria und Autowerkstatt in der Mitte unterbringen. Ich entgegen, dass das für die Kunden meiner Werkstatt blöd wird, wenn sie statt ihres Autos nur Ravioli mit Ricotta-Füllung abholen können und wir einigen uns, dass an den Monaten mit „r“ Autowerkstatt ist und an denen ohne Osteria.

Flügel sind ja sehr verbreitet im Leben und auch sonst. Jede Partei hat ihre Flügel. Die SPD hat zum Beispiel den Seeheimer Kreis, die CDU hat die Werteunion, die Grünen hatten, als sie noch lustig und nicht staatstragend waren, einen Fundi- und einen Realoflügel, die Liberalen bestehen nur aus einem Flügel und die AFD hat ihrem Flügel verboten zu flattern. Es gibt dann immer Flügelkämpfe, wobei das Bild sehr verwirrend ist. Denn wenn ich mir einen Vogel vorstelle, dessen Flügel miteinander kämpfen, frage ich mich, was die Mitte derweilen macht.

Das Leben hat auch Flügel. Manchmal hebt es ab, manchmal schwebt man und manchmal werden einem die Flügel gestutzt. Manch einer breitet seine Schwingen wie ein Adler aus, andere sehen beim Fliegen aus wie Enten, denen man am liebsten zurufen möchte: „Geht lieber Baden“. Aber ich würde mich in die These versteigen:  Wer im Leben nicht einmal geschwebt ist, hat nicht gelebt. Stimmt’s Judith?

Sie steht immer noch vor dem Schloss. „Vielleicht wäre es ein bisschen besser, wenn wir alle in die Mitte ziehen“, sinniert sie. Die Flügel seien sehr schön und die Idee mit der Garagen-Osteria sei auch okay, aber es komme doch darauf an, wo das Herz schlägt. Ohne Herz seien die Flügel völlig nutzlos und im Übrigen würde ihre Tochter wahrscheinlich nicht allein im Ostflügel schlafen wollen.

Ich staune. Da segele ich mal nach links und mal nach rechts im Leben, lasse mich von der Thermik treiben, die unter meinen Flügeln weht und beobachte, wie der Rest der Welt das mehr oder weniger genauso macht. Und dann kommt da so ein Pfeil entlang gezischt, so eine Rakete – kerzengerade und ohne Flügel. Mir jedenfalls ist an diesem Vormittag in der nördlichen Lombardei der Pfeil mitten durchs Herz gegangen.