Regelbetrieb

Jetzt ist also wieder Regelbetrieb. Nur, dass keine falschen Vorstellungen aufkommen: Wir bilden uns nicht etwa ein, Ausnahmeerscheinungen zu sein, aber Regelbetrieb ist im Grunde genommen nicht das, wofür Judith und ich auf die Welt gekommen sind. Wir sind gekommen, um mit neuen Ideen zu erschüttern, das All zu erobern, die Welt aus den Angeln zu reißen oder zumindest den Lauf der Dinge ein bisschen besser zu ölen. Und es hat ja auch ganz gut angefangen – unsere Kinder verdanken uns immerhin ihr Leben. Und nun schicken wir sie wieder in den Regelbetrieb.

Das ist etwa so sexy wie Autobahnbehelfsausfahrt, Schienenersatzverkehr und Nahrungsergänzungsmittel. Das Leben, sage ich zu Judith, halte doch eine Fülle von Nicht-Überraschungen bereit. „Und“, fragt sie, „überrascht dich das?“ 

Darüber grübele ich länger. Ich meine, Überraschung entsteht dort, wo der Gang der Dinge schneller passiert, als wir es erfassen. Wo der Geist nicht mit den Weltenläuften mithält und sozusagen noch geradeaus läuft, wenn die schon scharf rechts abgebogen sind. Die Folge einer Überraschung ist eine Überforderung, die die Herrschaft der Vernunft zumindest kurzfristig unterbricht. Für einen Hungernden ist ein Schweinebraten genauso eine Überraschung, wie für den Enthaltsamen ein Swingerclub. „Jetzt bist Du aber auf glattem Eis unterwegs, mein Lieber“, sagt Judith und wendet den Schweinebraten im Ofen.

„Wieso?“, entgegne ich. „Die Normalität ist eine asphaltierte Straße, auf der keine Primel mehr wächst.“ – „Deswegen führt sie ja auch ans Ziel.“ Judith ist Pragmatikerin. Ich gebe mich geschlagen und schärfe dem Jüngsten, der unter anderem mir sein Leben verdankt, noch vor dem Zähneputzen ein, dass Regelbetrieb etwas auf jeden Fall Zielführendes ist. Er nickt und haucht mich an, damit ich überprüfe, ob er auch tatsächlich Zahnpasta benutzt hat. Wir sprechen das Gute-Nacht-Gebet und singen noch was Kurzes. Auch er liebt den Regelbetrieb. Kurz bevor die Augen zufallen, seufzt er allerdings noch: „Gott sei Dank“, sagt er, „sind bald Ferien.“