Warum wir auf den Videobeweis pfeifen
Also, wenn es in meinem Leben ständig einen Videobeweis geben würde, wäre es nicht so schön geworden – mein Leben. Als ich zum Beispiel Judith das erste Mal mit vollem Bewusstsein erblickte, traf mich der Blitz. Mir blieb das Herz stehen. Ich verlor das Bewusstsein umgehend. Und gäbe es einen Videobeweis davon – ich hätte mich für immer zum Gespött der Leute gemacht.
Unser gemeinsames Leben ist seither auch keines, das sich für Videobeweise eignet. Judith braucht morgens immer etwas, um in den Tag zu kommen. Wenn ich ein Video drehte, das bewiese, wie sie atemlos versucht, den schon fortgeschrittenen Tag einzuholen, wären wir geschiedene Leute. Und wenn sie umgekehrt die Anzahl meiner Schuhe, die im Wohn-, Schlaf- und Esszimmer herumfliegen, videobeweisen würde, dann dürfte ich mir bis ans Lebensende kein einziges weiteres Paar leisten.
Ja, unser Leben besteht in Wahrheit aus kleinen und manchmal sogar größeren Fluchten, von denen wir wirklich nicht möchten, dass es dafür Beweise gibt. Einige davon schildern wir hier, bei anderen ist es ein bisschen besser, wir begraben sie in unserem Herzen und schweigen darüber, sonst hätten wir ja gleich Influenzer werden können.
Als wir beide letzten Montag in Hamburg in der Elbphilharmonie gewesen sind, was ein nachdrücklicher Bau ist, wo die Hamburger Kaufleute zeigen, was sich mit Geld und Geschmack anrichten lässt, haben wir am Fenster im 16. Stock gestanden. Du kannst da rausgucken auf den Michel und seine Getreuen, aber die Scheibe ist so bepunktet, dass Reingucken nicht geht. Während ich noch dachte, wie schön Aussicht ohne Einsicht ist, schoss Judith von der Seite den Fotobeweis.
Ich glaube, sie sieht mich gern durch ihre Linse. Es ist ihre ganz eigene Sicht auf den Stand der Dinge. Ihr Objektiv, es müsste eigentlich Subjektiv heißen. Das Messbare weicht dem Menschlichen und ist das Gegenteil von einem Videobeweis. Zehn zu null heißt unser Spielstand deswegen. Es lebt sich ganz gut damit.