Mein Freund der Baum

Gerade in dieser Zeit, in der wir uns notgehorchend nur über kurze Strecken oder gar nicht bewegen, kann es helfen, die Perspektive von solchen einzunehmen, die das immer so machen. Ihr Leben lang. Bäume zum Beispiel. Was geht vor im Leben einer Rotbuche?

Ihr ganzes Streben gilt der festen Verwurzelung. Möglichst weit verzweigt, dass es gut hält und zu umfangreicher Nahrungsaufnahme dienen kann, denn einkaufen gehen ist nicht. Sich Nachbarschaften, Freundschaften oder gar Geliebte auszusuchen ist zwecklos, denn die sind Gott gegeben. Der Baum – oder ist es die Bäumin? – verschwendet keinen Gedanken daran, denn er lebt sein Leben im Lockdown.

Die sie umwuselnden Zwei-, Vier-, Sechs oder gar Achtbeiner beobachtet sie voll Mitleid. Völlig haltlos sind sie. Wie entsetzlich muss es sein, in der Morgensonne zu erwachen und erst einmal herausfinden zu müssen, wo man ist. Die Unruhe, die sie erleiden, muss der Grund sein, warum sie in der Regel jung sterben. Jedenfalls im Vergleich zu ihr selbst. Sie könnte ihnen jederzeit Äste auf den Kopf werfen, aber sie ist gut erzogen und macht es meist nicht. Ein bisschen besser, sagt sich die Rotbuche, ist dieses aufrechte Leben an dem Ort, der einem wirklich ein zu Hause ist.

Nur einmal im Jahr verfällt sie ins Grübeln. Es geht um ein delikates Thema: Die Fortpflanzung gelingt nur durch Bewegung. Früchte müssen abgeworfen, möglicherweise muss Blütenstaub sogar von A nach B transportiert werden. 

Und dann ist da noch das Ende. Die größte Bewegung ereilt sie, wenn sie umkippt, sei es aus Altersschwäche, wegen eines Sturms, oder weil sie die Axt des Holzfällers trifft. Die Rotbuche erkennt: Zu Geburt und Tod kommt sie in Bewegung.

Zugegeben, es fällt auch nach einem Jahr Lockdown verdammt schwer, sich in so einen Zustand hineinzuversetzen. Trotzdem lohnt der Versuch. Als ich jedenfalls neulich wieder die Taucherbrille in die Tasche warf und los wollte ans Mittelmeer, hat Judith mich überredet, mit ihr in den Wald zu gehen. Es wurde ein friedlicher Sonntag.