Inzidenz und Evidenz

Diese Woche ist es dann passiert: Wir haben ausgeschaltet. Wir hatten keine Lust mehr auf steigende Inzidenzwerte, die sich noch nie mit unseren Evidenzwerten gedeckt haben. Wir hatten die Nase voll, von Apokalyptikern, die sich täglich aufs Neue wundern, dass sich die Welt noch dreht. Wir beschlossen, den Regulatoren nicht länger zuzuhören, als sie die zugewiesene Bewegungsfreiheit in Baumärkten von elf auf 20 Quadratmeter erhöhten. Und wir kauften einen Kasten Astra ohne Zeneca und überhörten im Kater die Meldung, dass auch mit Zeneca wieder erlaubt ist.

Ja, so war das, bis Judith gesagt hat, solange die Welt nicht auf die Füße fällt, ist es halt ein bisschen besser, wenn wir auf dem Kopf stehen. Ein Perspektivwechsel also. Die Therapie wirkt Wunder, weswegen wir hier einige Erfolge schildern möchten:  Mitte der Woche nahmen wir die Meldung auf, dass zehn Millionen Deutsche bereits ihre erste Impfung im Leib haben. Wir jubelten. Ebenfalls in der Mitte stellten Meteorologen fest, dass der März gemessen am langjährigen Durchschnitt bislang ein Grad zu kalt gewesen sei. Wir haben uns beim Abendbrot gestritten, ob das klimatechnisch eine gute oder doch vom persönlichen Empfinden her eine schlechte Nachricht ist. Angesichts der Zweier-Besetzung am Abendbrottisch ging die Sache zwar unentschieden aus, aber immerhin.

Briefe öffnen wir noch, und die Woche war einer dabei, der uns bescheinigte, dass wie vier Euro zu viel für Strom bezahlt haben. Wir haben daraufhin eine Flasche Wein für 9,50 Euro ausgetrunken, die wir rechnerisch erst in zwei Monaten und acht Tagen wieder drin haben. Die Online-Kleider-Lieferung ist ausnahmslos etwas enger ausgefallen, ich sehe es als Anspruch, hineinzuschrumpfen. Die Hündin hat seit drei Monaten keinen Durchfall mehr gehabt, es ist nicht einmal ein Glas runtergefallen, das Auto ist nicht kaputtgegangen, und wir haben alle drei Tage frische Tulpen.

Als es uns dank dieser Therapie zum Wochenende hin wieder besser ging, habe ich nach tagelanger Abstinenz die Zeitung aufgeschlagen, die ja auch kommt, wenn man beschließt, sie nicht zu lesen, und bin über die Meldung gestolpert, dass die Finnen zwar unverändert das glücklichste Volk der Erde seien, sich die Deutschen aber in dieser internationalen Parade um ganze zehn Plätze auf den einstelligen Bereich vorgekämpft haben. „Holla, die Nachtfee“, habe ich zu Judith gesagt, „diese Deutschen stellen doch immer wieder ihr Leben auf den Kopf.“ Wir fühlten uns zwar als Nachzügler mit unserer Therapie, aber doch als eins mit dem Volk und waren irgendwie glücklich damit.