Fünf-nach-zwölf

Ich schreibe diese Zeilen um fünf nach zwölf. Ist wahr, der Zeiger ist eben über die zwölf gerutscht und theoretisch ist jetzt morgen, ich fühle mich allerdings noch dem Gestern verbunden. So richtig vorbei ist das noch nicht. Manchmal hänge ich gern ein bisschen länger im Gestern herum. 

Das Fünf-nach-zwölf ist eine Zeitrechnung, die wesentlich seltener anzutreffen ist, als die andere, die Fünf-vor-zwölf-Rechnung. Die kommt alle Nase lang vor. Beim Klimawandel ist es längst schon fünf vor zwölf, eher vier vor oder drei vor. Und wir alle denken, hoffentlich haben wir sie noch, diese drei Minuten. Bei der Corona-Krise ist es auch ganz knapp vor zwölf und wenn wir jetzt nicht die Infektionswege verlangsamen, rennt uns die Zeit davon und es ist hastdunichtgesehen nach zwölf. Und im Leben einer Frau gilt, wenn Du bis 40 keinen abgekriegt hast, ist es fünf vor zwölf, Männer haben da mehr Zeit, sagen die Männer, aber sie kennen natürlich das Phänomen.  

Wenn ich jetzt bei den Frauen und Männern als Beispiel verweile, ist klar, dass das natürlich Quatsch ist. Es gibt ein Leben nach der 40, manche sprechen vom Leben nach dem Tod, aber so ist das eben nicht. Es gibt ein Leben nach zwölf und zwar ein sehr lebenswertes. Die Kunst besteht darin, sich im Fünf-nach-zwölf zurechtzufinden. Dabei wird es Zeit für diese neue Zeitzone. 

Denn in Wirklichkeit ist der Zeiger doch längst in den Tag danach gesprungen. Corona ist ausgebrochen und fordert seine Opfer, und wir können jetzt nur noch üben, damit umzugehen. Der Klimawandel hat eingesetzt und verändert diesen Planeten, und wir können uns nur noch damit arrangieren. Das Glas ist nicht nur halb, sondern ganz leer, und wir können zusehen, dass wir irgendwo noch Nachschub bekommen: „Herr Ober, bitte!“ 

Ist das bitter? Wie finden, anstatt ständig „Achtung – fünf vor zwölf“ zu rufen, ist es ein bisschen besser, sich das Fünf-nach-zwölf einzugestehen. Morgen ist auch ein Tag und möglicherweise lebt es sich in dem auch ganz gut. Wir glauben, das Vertrauen, das Fünf-nach-zwölf meistern zu können, entspannt die Lage wesentlich mehr, als das Schüren von Panikattacken im Fünf-vor-zwölf-Modus. Es geht darum, mit den Problemen zu leben, die wir vergessen haben, rechtzeitig abzustellen, anstatt zeitgleich mit ihrem Eintreffen den Weltuntergang zu prophezeien. 

Beim Virus funktioniert das jetzt doch schon ganz gut. Judith, die Kinder und ich jedenfalls tarieren gerade am neuen Lebensmodell. Alle sind zu Hause, keiner ist gleicher, jeder ist verunsichert, jeder hat etwas verloren: Jobs, Geld, Reisen, Träume. Mehr nicht. Und jetzt wechseln wir die Perspektive und freuen uns, dass wir wahrscheinlich eine historische Schlacht überstehen werden, zumindest wenn genügend Klopapier im Regal liegt. 

Wir glauben das Fünf-nach-zwölf kann ein sehr lebenswerter Zustand sein, der jetzt aber auch schon wieder fünfzehn Minuten her ist. Judith komm, wir gehen ins Bett.