Der richtige Moment

Als Judith und ich und das Töchterchen jüngst beim ersten Glühwein der Saison am Eingang des Weihnachtsmarktes standen, wo es nach gebrannten Mandeln und Waffeln aus dem Eisen duftete, und der diesmal ja auf eine wunderbar winterliche Kälte trifft, die uns den Glauben an die Jahreszeiten zurückgibt, fiel uns auf, wie entscheidend der richtige Moment im Leben ist.

Wir wussten das natürlich schon vorher. Wir wussten es, als wir uns damals kennen lernten und spürten, dass etwas Altes vorbei und etwas Neues im Werden war. Judith, die mit der Kamera durch den Alltag und auch das nicht Alltägliche streift, ist Spezialisten für richtige Momente. Sozusagen eine Trüffelsau für Augenblicke, die genau dann abdrückt, wenn vier Strahlen rarer Wintersonne durch die Gitter des Eifelturms leuchten. Früher, als es noch die abgezählten Bilder auf dem Film gab, mussten Fotografen das perfekte Gespür für Momente haben und Judith stammt aus dieser Zeit – auch wenn ich ihr stets versichere, dass sie ewig 24 bleiben wird. Heute genügt es, unter hunderten von falschen Momenten, den einen richtigen zu erkennen, und auch das ist eine Kunst.

Das Problem mit dem richtigen Moment ist, dass wir alle erst hinterher merken, wenn wir ihn eben verpennt haben. Wenn es zu spät ist, das Gesagte ungesagt zu machen („Deine Hosen saßen auch schon mal besser“). Wenn die Flasche über den Durst schon geöffnet ist. Wenn die Entscheidung lieber nichts zu ändern, als alles in Frage zu stellen wieder so wie gestern ausgegangen ist. Wenn Dich Dein Heck in der Kurve überholt. Wenn die Gans im Ofen die Farbe von braun zu schwarz gewechselt hat. 

Natürlich sind auch die Frühkommer kein bisschen besser.  Wenn ich „Schatz, ich bin schon wieder erster“, rufe, beschreibt das kleine Katastrophen durchaus angemessen. In Wien, wo ich mich auch mal eine Zeit lang rumtrieb, gilt Pünktlichkeit sogar als Unhöflichkeit. Aber da zum Rendezvous dort beide zu spät kommen, erleben sie den richtigen Moment um Viertel nach gemeinsam. Und der Glühwein-Moment, der der richtige ist, kommt dann, wenn Du Dir nicht mehr die Zunge verbrennst an dem Zeug, es aber noch immer so heiß ist, dass die Hitze einen das Quietschsüßklebrige nicht schmecken lässt. Wir haben dem Töchterchen eine Waffel mit Puderzucker spendiert. Ich habe dann zu Judith gesagt, wie schön es sei, mit ihr bei Mandelduft und Klirrekälte den ersten Glühwein der Saison zu trinken. Sie hat Lachfältchen um die Augen bekommen, obwohl ihr Tag nicht ohne war, und ich wusste, es war der richtige Moment.