das Leben der Anderen

An sich wären wir diese Woche in der Aula gewesen. Ich hätte mir was Ordentliches angezogen und meinem Großen gesagt: „Du könntest Dich auch mal kämmen“. Und dann hätten wir eben zweieinhalb Stunden mit Schulorchester und Eltern verbracht und genossen, wie der Älteste sein Abi-Zeugnis in die Hand bekommt. Stattdessen habe ich 800 Kilometer entfernt im Stream geschaut, ob die Frisur sitzt, habe ein bisschen geschluckt, einen Screenshot gemacht und per Social verschickt. „Pfundskerl“ habe ich daruntergeschrieben. „Krass“ hätte er selbst getitelt.

Corona macht es möglich: Was noch im letzten Jahr eine Familienfeier gewesen wäre, ist heute etwas, was die Nachfolgenden unter sich ausmachen. Wir sind Zuschauer des Lebens der Anderen am Bildschirm, der uns darüber informiert, was bei denen so abgeht. Wir gehen in die Metropolitan Opera –  nicht einmal im Leben, sondern wann immer wir Lust haben, weil es ja den Stream gibt. Kreissäle und Begräbnisinstitute haben eine Webcam für die entscheidenden Augenblicke und das Ja-Wort geben wir uns am besten auch per Videokonferenz, denn schließlich wollen wir niemanden anstecken. Aus „remote work“ ist „remote life“ geworden.

Der Spruch, den sich erschöpfte Partner zurufen, wonach man loslassen können muss, was man liebt – der Spruch wird Wahrheit, ehe wir uns versehen, weil wir die entscheidenden Momente nur noch im Stream erleben. Der Spruch ist übrigens ebenso falsch, wie der, dass Scherben Glück bringen oder der, wonach der Klügere nachgibt. In Wahrheit setzt sich der Klügere schnell mal durch, Scherben sind die Hinterlassenschaften eines Unglücks, und wer liebt hält fest, ansonsten wird die Liebe beliebig.

An dieser Stelle greift Judith ein: „Stell Dir vor, wir hätten alle diese Möglichkeiten nicht“, sagt sie und hat diese ernste Tonlage, die höchstens einmal am Tag vorkommt. Wir hätten nicht die Abi-Feier im Stream gesehen, wir hätten nicht die vergangenen Monate mit Bild und Stimme zu all denen Kontakt gehabt, die uns fehlten. „Es ist ein bisschen besser, wie es ist“, sagt sie.

Ich gehe den Berg hinauf und wieder runter, kraule den Hund, räume das Geschirr weg, suche ein Stück Schokolade – und beschließe, ihr zu glauben. Fortschritt hinterlässt Erinnerungen, die am Anfang wehtun und über die Zeit zur Folklore werden. Und loslassen können, hat wahrscheinlich mit dem Management von Liebe zu tun. Ein Pfundskerl ist mein Großer trotzdem.