Biedermeier 2.0

„Die Welt ist schrecklich“, stöhnt meine Frau Judith und dreht das Radio aus. „Gaza, Ukraine, 54 Grad in Brasilien, die Menschen kippen einfach um. Bums.“ „Bums“, pflichte ich ihr bei. „unsere Regierung lässt sich beim Falschrechnen erwischen, die Bahn streikt, der Nachbarshund hat einen Haufen in den Hof gesetzt, und ich glaube ich bin reingetreten.“ 

Wir schließen das kreischende Rolltor zu unserem Hinterhof, wir nehmen die Treppe, wir öffnen und schließen die erste Tür. Wir öffnen und schließen die zweite Tür.  Es dämmert schon wieder, das Töchterchen ist in einen friedlichen Nachmittagsschlaf verfallen, die Hündin macht Ferien bei Oma und Opa, Judith beginnt ein neues Buch, ich zündele im Kamin, es duftet der Kaffee. Wir sind Frau und Herr Biedermeier, die Welt ist uns zu grell geworden, der frühe Vogel kann uns mal. 

„Eines nur ist Glück hienieden. Eins: des Inneren stiller Frieden. Und die schuldbefreite Brust! Und die Größe ist gefährlich. Und der Ruhm ein leeres Spiel: Was er gibt, sind nichtige Schatten. Was er nimmt, es ist so viel“, reimt Franz Grillparzer, der österreichische Nationaldichter des Biedermeiers. Sein Arbeitszimmer ist jetzt wieder im historischen Museum in Wien zu sehen: braune gediegene Möbel, Ornament-Tapete, das Parket knarrt. Wir drehen das Radio aus. Die Welt, wie sie ist, sie treibt uns ins Biedermeier 2.0. Es sieht nicht aus wie braune Möbel, sondern wie die TikTok-Insta-Bilder, alle gleich, alle heile. Wir gehen nicht mehr raus, wir lassen liefern. Der Algorithmus kennt uns besser als wir selbst.

„Das Glück ist eine leichte Dirne, und weilt nicht gern am selben Ort. Sie streicht das Haar dir von der Stirne, und küsst dich rasch und flattert fort“, dichtet Heinrich Heine, Luftlinie anderthalb Kilometer von uns entfernt in Düsseldorf geboren und gelebt zur gleichen Zeit wie Kollege Grillparzer in Wien. Ich sage zu Judith, es sei ein bisschen besser, wenn es immer zwei gebe. Grillparzer und Heine, Biedermeier und Revolution, Wiener Walzer und Düsseldorfer Punk, ich und du. „Und wir haben jeden Tag aufs Neue die Wahl.“ Judith schaut mich an, streicht mir das Haar von der Stirn. Und dann flattern wir fort.