Wir lassen uns dieses Europa nicht nehmen
Vielleicht hilft es ja, sage ich zu Judith, an Tagen wie diesen, wo alle im Land bestürzt sind über das, was sie aus Solingen erfahren, übers Wegfahren zu reden. Einfach weg von hier, wo sich alles so zuspitzt. Judith schaut mich zweifelnd an. „Weglaufen war noch nie eine Lösung“, sagt sie und überhaupt, wir sollten uns doch unsere Art zu leben, nicht kaputtmachen lassen. Sie klingt wie der Ministerpräsident.
Mein letztes Wegfahren war so: Ich steige in dem kleinen Dorf im Süden, in dem wir manchmal wohnen, in den blauen Bus, der sich bergauf, bergab, die schmale Seestraße entlang zum Bahnhof schleppt, was er brav tut, aber es steigen nach der Hälfte der Fahrt ein Fähnlein Pfadfinder dazu, die die Schaukelei nicht alle gut vertragen, sondern sich der eine oder andere übergibt. Am Ziel erreiche ich leicht säuerlich den Zug, den ich gebucht habe, und stelle fest, dass es ein Sonderzug zur Love Parade und die Stimmung schon eine lautstarke-feuchtfröhliche ist. Er bringt mich durch Tunnels und Täler zum Flughafen, wo die Maschine wegen schlechter Bremsen aus dem Verkehr gezogen ist. Ich kenne das, weil ich Judiths Auto auch schon mal zu Ende gebremst habe. Judith war ziemlich sauer, denn bis die Ersatzteile da sind, kann es dauern. Als ich spätabends in einem anderen Teil Europas dahin komme, wo ich nachmittags hätte sein sollen, weiß ich a), dass Reisen nicht die Bewältigung einer Strecke von einem Ort zum anderen, sondern eine Beschäftigung an sich ist, und habe b) mein Buch zu Dreiviertel durchgelesen. Es heißt „Die Erfindung des Lächelns“ und dreht sich um den Raub der „Mona Lisa“ aus dem Louvre.
Ich rufe Judith an in dem kleinen Dorf, das ich morgens früh verlassen hatte. Ich erzähle ihr in bunten Farben und mit nur ganz winzigen Übertreibungen von meiner abenteuerlichen Reise durch aller Damen und Herren Länder: Pfadfinder, die keine Kurven vertragen, feierwütige Liebes-Paraden-Anführer*Innen, Lieferkettenschwierigkeiten bei Flugzeugbremsen, der Louvre und über allem das Lächeln der Gioconda. „Ich liebe Europa“, seufze ich leise in das Mikrofon des Handys am Ohr.
Meine Frau hört zu. Wahrscheinlich lächelt sie jetzt gerade, wo sie mal wieder meine Geschichtchen hört. Ich könnte sie dann „Mona Judith“ taufen. Und ich denke, es ist ein bisschen besser, wie lassen uns dieses herrlich unperfekte Europa, von nichts und niemandem nehmen. Als ich einschlafe, fühle ich mich fast wie der Ministerpräsident.