petit Bourgeois

An diesem Tag, als mitten im Winter der Winter ausbricht, sitzen Judith und ich länger im Auto und sprechen darüber, warum wir sind, wie wir sind. Wir wollen wissen, warum das Leben ein Road Movie ist und ob es möglich ist, den Film anzuhalten. Um das zu verstehen müssen wir weit in unsere Kindheit zurückblicken, die bei Judith so ausgesehen hat, dass sie als Revolutionärin geboren wurde, die erste Gelegenheit nutzte, um das Elternhaus zu verlassen, die Haare zu Dreadlocks verflochten hatte und so etwas halsbrecherisches wie Fotografin geworden ist. Ich hingegen habe mit der Eisenbahn gespielt, Veranstaltungen der Jungen Union besucht und meine Wäsche auch nach erfolgreichem Auszug zum Waschen nach Hause vorbeigebracht. Man könnte also sagen, ich sei eher als Evolutionär geboren.

Und dann hinterlässt das Leben seine Spuren. Bei ihr führte es kurzgesagt dazu, dass sie die Arbeiterklasse doch nicht anführen wollte, sondern die Revolution im Herzen bewahrt hat. Sie funkelt ihr manchmal aus den Augen, ansonsten aber ist Judith sehr umgänglich geworden. Ich hingegen entdecke mit den Jahren einen immer stärkeren Freiheitsdrang und erhebe mich manchmal wortgewaltig und nach dem dritten Glas Wein über meine gendernde, glutenfreie und minderheitenverliebte Umwelt. Der Wein heißt übrigens „Petit Bourgeois“ und entspricht sehr unserem gemeinsamen Lebensgefühl, an das wir uns jeder aus seiner Richtung kommend angenähert haben: Aus uns sind nämlich kleine, aber durchaus stolze Bürger geworden.

Ein bisschen besser, sage ich zu ihr, wäre es, wenn unsere Entwicklung jetzt nicht wie eine Schweizer Lokomotive auf Schienen einfach stur nach Fahrplan immer weiterrollte und uns damit zwangsläufig voneinander entfernte, sondern sich mehr wie die Deutsche Bahn verhielte, die, wenn im Winter der Winter ausbricht, gern mal stehen bleibt. Wir genießen nämlich den Augenblick sehr und plädieren fürs Innehalten. Wir haben ein klares Bewusstsein über Zustände des Seins erlangt, übrigens ganz ohne Hilfe asiatischer Religionen. Die Schönheit, das wissen wir sicher, liegt im Stehenbleiben. Dafür lieben wir die Deutsche Bahn. Im Road Movie sind es ja auch die Pannen haben, die sich tief ins Gedächtnis eingraben.