Einmal ans Meer und zurück

Einmal durchpusten lassen, sagte Großmutter immer, die noch aus Ostpreußen stammte, und sie meinte damit, raus in den Wind gehen, vielleicht am Strand der Ostsee, wo der Sand tief fliegt und die feuchte Luft noch Meilen hinter dem Meer etwas Salziges hat. Meine Frau Judith, unsere Kleine, der Mittlere und ich sind jetzt dahingefahren, nicht nach Ostpreußen, sondern am Wochenende ans Meer nach Holland, so wie ein paar Millionen andere auch, von denen wir einige vor uns und einige hinter uns auf der Straße getroffen haben, wo wir mit ihnen dann anstanden zum Durchpusten.

Was ist das eigentlich Judith, dieses Durchpusten? Ist so viel Mief zu Hause, dass nur noch Sturmböen ihn aus den Poren treiben können? Sind es diese frühmorgens beginnenden Diensttage, an denen deine Gedanken ums vor Dir Liegende kreisend, deinen Kopf schon dahin tragen, wo deine Beine noch gar nicht sind? An denen die zehntausendfach genutzten Handgriffe aufs Neue greifen, bis so ein Tag dann doch seinen Schwung gefunden hat, und wir ihn besteigen und uns festkrallen wie an ein Karussell, das endlich quietschend zu rotieren beginnt und sich so lange dreht, bis die Münze für dieses Mal abgegolten ist?

Sich Durchpusten lassen, das haben – so berichte ich Judith und versprühe einen Hauch Melancholie, was mir gutsteht, denke ich – das haben eine Handvoll Dichter gedacht, als sie im Sommer 1936 nicht weit von hier im belgischen Ostende den Weltuntergang mit Hektolitern von Schnaps begossen. Joseph Roth war darunter der Hektoliterkönig, und er klagte ob stocknüchtern oder sturzbesoffen über zernichtete Zeit und zerlebtes Leben. Stefan Zweig sah die Sache ein bisschen besser: „Das Leben heißt allein: Empfangen und Verschwenden. Und nur die Sehnsuchtswilden haben mich begeistert.“

„Zerlebt und sehnsuchtswild – Judith das passiert, wenn wir uns durchpusten lassen“, raune ich bedeutungsschwer, als wir im Sonnenuntergang zurückreisen. „Ja“, erklärt Judith die Zeitläufte im Schnellgang, „nur so konnte Deine Oma Ostpreußen überleben, mitten im Krieg Deinen Papa zur Welt bringen, so dass jetzt unsere Rückbank voller Kinder ist.“ In dem Augenblick unterbricht die Kleine hinten das Gekaue ihrer Brezel, bläst die Backen auf und macht lautstark „pffffft“. Feuchte, salzige Luft landet vorn bei uns.