Brücke nach morgen

In diesen letzten Tagen vorm neuen Jahr sitzen wir bei Champagner und Nudeln in der Küche der Freunde und lassen den Versen freien Lauf. „Heute da ist mir nichts zu teuer, morgen geht ja die Reise los“, heißt mein diesjähriger Jahresendzeitsatz. Stammt von Hans Albers. Genau mein Ding. Völlig unkorrekt, der Typ. 

Meine Frau Judith sagt, sie sei gedichtmäßig unterbemittelt. Sie sei eine Frau der Bilder und das sei ein bisschen besser so. Der Freund kann Erich Kästner frei heraus: „Das Jahr ward alt. Hat dünnes Haar. Ist gar nicht sehr gesund. Kennt seinen letzten Tag, das Jahr. Kennt gar die letzte Stund.“

Stunden später, als sich Champagner und Verse verflüchtigt haben, zieht es uns weiter nach Süden. Über die hohen Berge in unseren alten Palazzo, der mehr Jahreswechsel sah als Judith, ich, und alle Freunde je zusammen. Zwischen seinen dicken Mauern wurde gestorben und gestritten, gezeugt und geliebt. Durch seine Ritzen, von denen er viele hat, quillt Menschengeschichte. Er empfängt uns an diesem allerletzten Tag mit einem kräftigen Rohrbruch. Es ist nicht Geschichte, sondern Wasser, dass durch die Ritzen quillt. Weil Klempner, wie auch Pastor im Dorf „Daniele“ heißen und in meinem digitalen Adressbüchlein Nachbarn sind, verrutscht uns die Zeile und wir rufen nach dem falschen Experten: Der Pastor kommt und geht, das Wasser bleibt. Irgendwann erscheint der Richtige. Als es Nacht wird, brauchen wir wieder einen Daniele, denn ganz oben im Palazzo wohnt ein Pianist aus Venedig, den seine Kräfte verlassen. 

Am Morgen kriecht mit dem neuen Jahr eine Wolke vom See herauf, die sich anfühlt wie der Geist des Pianisten. Schweigend winden wir uns durch die weißwässrige Wand nach unten, starren von der Brücke den See entlang, dessen Ende im Nebel liegt. Judith macht das Bild. Der Erich fällt uns wieder ein: „Das Jahr kennt seinen letzten Tag, und du kennst deinen nicht.“ Zum Glück habe ich den Hans im Kopf: „Komm doch liebe Kleine“, sage ich zu Judith, „sei die Meine. Sag nicht Nein.“